Eine angenehme Form der Aufgeregtheit
Tango tanzen mit Parkinson
Schon der Weg zu einer Veranstaltung kostet Menschen, die an Parkinson erkrankt sind, viel Kraft und Überwindung.
Umso überraschender, wie viele Betroffene aus verschiedenen Berliner Bezirken sich pünktlich zum zentral gelegenen Tango-Workshop von Augusto Salvo González eingefunden haben. Zum besseren Zurechtkommen mit den Auswirkungen der vielfältigen Erkrankung lassen sich hier kognitive, emotionale und soziale Anreize zur Motivation erlernen.
Gutgelaunt und einfühlsam begrüßt der agile siebzigjährige Trainer die Gäste. Einige sind allein erschienen, andere mit ihren Partnerinnen.
Erst werden die Rollatoren geparkt, dann die Schuhe gewechselt. Wer keine Tanzschuhe besitzt, für den hält Augusto geeignete Übersocken bereit. Alle legen Wert darauf, selbst Hand dafür anzulegen, auch wenn dies schwierig ist.
Nach einem Warming-up mit der versierten Yoga-Lehrerin Monika stimmen sich die Gäste – abwechselnd ein Nichtbetroffener und ein Betroffener – zusammen an den Händen im Kreis mit Wiegeschritten auf die Übungen ein.
Jeder hat schon von Parkinson gehört, aber wer nicht im engeren Kreis jemanden kennt, der daran erkrankt ist, kann sich kaum ein Bild davon machen.
Die Journalistin Myriam Salome Apke fasst die Erkrankung in ihrem Artikel „Wenn Frau Kullik tanzt“ in der Zeit Nr.46/2017 vom 15.11.2017 unter der Überschrift „Morbus Parkinson – bis zu 280.000 Menschen sind hierzulande betroffen“ so zusammen: „Vor 200 Jahren beschrieb der britische Arzt James Parkinson erstmals die Symptome. Er hatte Menschen auf den Straßen Londons beobachtet und befragt, die gebückt und zittrig gingen. Nach Alzheimer ist Parkinson die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung. Heute weiß man, dass dabei Nervenzellen im Gehirn absterben, die den Botenstoff Dopamin produzieren. Durch den Mangel dieses Neurotransmitters wird die Beweglichkeit stark beeinträchtigt, auch Psyche und Geist können in Mitleidenschaft geraten.“
Augusto, ein ehemaliger Ingenieur und erfahrener Tangotänzer, wuchs bei seinem Großvater, einem promovierten Arzt auf. Dieser vermittelte ihm schon früh einen analytischen Blick auf die Leiden der Mitmenschen.
Nachdem Augusto als Tangolehrer bereits jahrelang mit Blinden und sogar mit auf den Rollstuhl angewiesenen Tänzer tanztherapeutisch gearbeitet hatte, hat er im letzten Jahr auch über Schülerinnen den Weg zu Parkinson-Erkrankten gefunden und anschließend dafür den Kurs für ein Zertifikat als Trainer für Tango-Therapie absolviert.
Die Vermittlung der anspruchsvollen, aber abwechslungsreichen Figuren im Tango mit ihrer angestrebten Eleganz erfordert schon bei halbwegs Gesunden wie dem Verfasser dieser Zeilen Engelsgeduld und Humor. Daher erscheint es fast wie Zauberei, wie erhebend und entfesselnd Musik und Bewegung im Miteinander bei Parkinson-Erkrankten wirken können.
Brigitte*, eine ehemalige Tangotänzerin mit 30jähriger Erfahrung und selbst erkrankt, erklärt, es sei eben nicht wie Fahrradfahren – alles sei verschüttet und müsse neu erlernt werden. Aber das Training mindere das Zittern und fördere wieder das Vertrauen in die eigene Stabilität. Das Gesamtgefühl erhebe sich auf ein anderes Level, es sei eine angenehme Form der Aufgeregtheit damit verbunden („Mein Vater hätte es enthusiasmieren genannt…“), die man mitnähme, und die einen zumindest zwei bis drei Tage lang auflade und so die Bewältigung des Alltags erleichtere. - Gerald* meint, das Training gebe ihm Power, zumindest im Kopf, er traue sich wieder mehr zu. - Carla*, eine hemalige Physiotherapeutin, sagt, sie sähe das Training als eine schöne weitere Physiotherapie, die Freude erzeuge. Auch andere Betroffene schildern diese Wirkung und erzählen außerdem, dass sie zuhause weitertanzten. Die Bewegungen fühlten sich leichter an und wirkten flüssiger. Aber die Energie lasse allmählich nach, man habe dann den Wunsch, wieder zum Training zu gehen.
Augusto berichtet, dass es bei allen schon nach einigen Terminen zur deutlichen Verbesserungen von Körperhaltung, Beweglichkeit und Koordination gekommen sei, am auffälligsten bei Betroffenen mit deutlichen Haltungsanomalien wie dem „Dropped-Head-Syndrom“ (Schwächung der Kopfhaltemuskulatur) oder der „Kamptokormie“ (Anspannung der Rumpfbeugemuskulatur). Das Gangbild habe sich deutlich verbessert, auch die Schwierigkeiten beim Rückwärtslaufen. Ein Teilnehmer könne wieder Treppensteigen und verzichte seit neuestem sogar gelegentlich auf den Treppenlift.
Probleme mit dem Gleichgewichtsempfinden seien hingegen schwerer einzuschätzen und wirkten häufig tagesabhängig.
Von guten Erfolgen speziell mit der Tango- Tanztherapie und dem damit verbundenen „Stop and go“ berichtet auch die private Hochschule SRH in Heidelberg. Musik scheint ein übergreifender Stimulus für nervale Blockaden zu sein. So sollen beispielsweise ehemalige Akkordeonspieler mit Parkinson es geschafft haben, wieder fließend zu spielen. Unter Ärzten ist die Methode umstritten, da es aber noch keine Heilung gibt, kann auch noch niemand recht haben.
Alter, Krankheit und Armut sind keine Randphänomene. Das aufrichtige Bemühen um die würdige Linderung derartiger Beschwerden sollte in einer wohlhabenden Gesellschaft öffentlich respektiert, anerkannt und gefördert werden.
*Name geändert
© Stefan Müser. Textabdruck/- änderungen oder sonstige Verwendung bitte nur in Abstimmung mit dem Autor und/oder Augusto Salvo González.